MFG - St. Pölten im ersten Weltkrieg
St. Pölten im ersten Weltkrieg


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St. Pöltens gute Seite

St. Pölten im ersten Weltkrieg

Text Siegfried Nasko
Ausgabe 03/2014

Schicksalsjahre 1914-1918: Siegfried Nasko über anfängliche Kriegsbegeisterung, erste Tote, Kriegswirtschaft, italienische Fabrikarbeiter, russische Gefangene, eine hungernde Bevölkerung und zunehmende Arbeiterunruhen.

Am späten Nachmittag des 28. Juni erreichte die Nachricht von den Ereignissen in Sarajevo auch St. Pölten. Sie verursachte einen „niederschmetternden Eindruck“ und soll vorerst eher unglaubwürdig aufgenommen worden sein.
Während von einigen Gebäuden bereits Trauerfahnen wehten, fanden Wiener Extrablätter, die bereits detailliert vom „entsetzlichen Verbrechen serbischer Mordbuben an unserem Vaterlande“ berichteten, reißenden Absatz. Tags darauf erschien auch eine Extraausgabe der „St. Pöltner Zeitung“ mit der Schlagzeile „Österreichs Thronfolger und seine Gemahlin ermordet“, während die „St. Pöltner Deutsche Volkszeitung“ erst am 2. Juli regulär auf das Attentat einging.
Kaiser Franz Joseph I. reiste Montag Vormittag von Bad Ischl nach Wien und passierte um 10 Uhr St. Pölten. In den zum Bahnhof führenden Straßen hatte sich eine große Menschenmenge eingefunden, wenngleich der Perron selbst abgesperrt geblieben war. Erzherzog Franz Salvator und Erzherzogin Marie Valerie, die in Amstetten dem Hofzug zugestiegen waren, verließen denselben wieder in St. Pölten, um per Auto nach Wallsee zurückzukehren.
Im St. Pöltner Rathaus trat am Vormittag des 30. Juni die Gemeindevertretung zu einer außerordentlichen Sitzung zusammen. Bürgermeister Otto Eybner sprach vom „Entsetzen über die verbrecherischen Anschläge am Erzherzogspaar“, von „Grauen und Abscheu gegenüber der fluchwürdigen Tat“ und von „hellster Empörung“. Schließlich wurde die Absendung eines Beileids-Telegramms an die Kabinettskanzlei des Kaisers beschlossen. Die „St. Pöltener Zeitung“ bemängelte in Folge, dass die Anordnung einer allgemeinen Trauerbeflaggung durch den Gemeinderat übersehen worden zu sein schien.
Der Trauerzug mit den Leichen des Thronfolgerpaares traf am 4. Juli kurz vor Mitternacht am Bahnhof St. Pölten ein, wo er kurzen Aufenthalt nahm. Eingefunden hatten sich dazu Bezirkshauptmann Hofrat R. von Wanjek mit den Spitzen der Zivilbehörden, Bischof Dr. Rößler, das gesamte Offizierskorps sowie Bürgermeister Eybner mit den Mitgliedern der Gemeindevertretung. Von sämtlichen Türmen der Stadt tönten um Mitternacht die Kirchenglocken. Hunderte von Personen hatten sich längs des Bahndammes aufgestellt, nach wenigen Minuten setzte der Zug seine Fahrt nach Pöchlarn fort.
Zahlreiche Organisationen richteten Ergebenheitstelegramme an die Kabinettskanzlei in Wien.
Dem Aufruf des Bischofs entsprechend, fanden in den St. Pöltner Kirchen Trauergottesdienste statt. Am 6. Juli zelebrierte der Bischof selbst eine Trauermesse. Die Israelitische Kultusgemeinde hatte bereits am 2. Juli eine Trauersitzung abgehalten, am 12. Juli fand in der Kaiser Franz Josephs-Huldigungssynagoge ein Trauergottesdienst statt. Nach einem Gebet für den Kaiser wurde die Veranstaltung mit der Volkshymne beschlossen.
Mit größter Spannung waren am 25. Juli die Wiener Zeitungen gelesen worden. Während die „Neue Freie Presse“ noch von Friedenssicherung schrieb, sollte die „Reichspost“ mit ihrer Kriegsprophezeihung Recht behalten. Die Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien wurde von den damals verantwortlichen Politikern, einschließlich des greisen Monarchen, leichtfertig und ohne Berücksichtigung der Bündnisautomatik vom Zaun gebrochen.
Jubel für den Krieg. Der sozialdemokratische Politiker Heinrich Schneidmadl hielt in seinen Erinnerungen fest: „Am Sonntag früh traf die Nachricht von der Kriegserklärung in St. Pölten ein. In der Stadt wurde die vom Kaiser unterzeichnete Proklamation affichiert. Noch am Vormittag kam es zu einer spontanen Kundgebung. Etwa 1.000 Männer, Frauen und Jugendliche zogen jubelnd durch die Straßen. ,Die Serben müssen sterben‘ johlte die Menge.
Nicht nur diese Demonstranten, sondern auch die Mehrheit der Bevölkerung war überzeugt, dass es sich nach Jahrzehnten des Friedens nur um einen militärischen Spaziergang handle mit der willkommenen Gelegenheit, neue ,Lorbeerreiser‘ zum Kranz für Habsburgs alte Krone zu winden. Und der Krieg selber werde in 14 Tagen zu Ende sein.“
Vor einem Auslagenfenster der Eisenhandlung Benedikt, in dem ein Kaiser-Huldigungs-Porträt angebracht war, gab es schon in der Nacht ständig Menschenansammlungen. Tausende durchfluteten die Stadt und formten sich zu einem Zug. Man sang begeistert die Volkshymne, und Hochrufe auf den Kaiser sowie auf die Armee und auf Österreich tönten durch die Nacht. Fahnen wurden herbeigeschafft und ein Kaiserbild vorangetragen. Bürgermeister Eybner sowie mehrere Offiziere wurden wiederholt von der Menge auf die Schultern gehoben.
Am 28. Juli war trotz unfreundlichen Wetters ganz St. Pölten auf den Beinen. Schon in den Morgenstunden pilgerte die Menge zum Denkmal an der Traisen. Dann ging es zum Einquartierungshaus und schließlich zum Bahnhofplatz, wo Bürgermeister Eybner das Wort ergriff: „In denkwürdiger, historischer Stunde, die wohl das Herz aller Österreicher höher schlagen lässt, kann ich es ... nur aufs freudigste begrüßen, dass das allzeit getreue St. Pölten hiermit seine patriotische Gesinnung so würdig zum Ausdruck bringt.“
Die Menge marschierte weiter. In der Andreas Hofer Straße versicherte Oberst von Dietrich der Menge, die strammen Hesser und „21er“ würden sich auf den Schlachtfeldern siegreich neue Lorbeeren holen. Am Bahnhofplatz ersuchte der sichtlich gerührte Bürgermeister Eybner die Menge, sich zu zerstreuen.
In den folgenden Tagen war St. Pölten von patriotischen Kundgebungen geprägt. In den Stadtsälen hatte am Sonntagabend ein patriotisches Konzert der Stadtkapelle stattgefunden. Bereits am Sonntagvormittag war es in der Domkirche zu einer spontanen patriotischen Kundgebung gekommen, als der Organist plötzlich die Volkshymne spielte. In der Heßstraße ließen es sich zwei Jugendliche nicht nehmen, zwei Soldaten zu ersetzen, die einen Wagen zogen. Und am Montag, 29. Juli wurde das k.u.k. Telegraphenregiment vor seiner Verabschiedung am Rathausplatz gesegnet. Oberst Stransky sagte dabei zu den Soldaten: „Der heiligste Augenblick ist für uns gekommen. Die schönste Stunde, die wir uns träumten, ist da, zu kämpfen, zu siegen und zu sterben.“ Anschließend flehte Pater Clemens Holzheu „den Segen des Himmels auf ihre Waffen“ herab.
In der Nacht vom 1. auf den 2. August verließen die einberufenen Truppen des bosnischen Bataillons sowie des Hausregiments Freiherr von Heß Nr. 49 St. Pölten. Am Abend zuvor war ihnen am Rathausplatz der Kriegseid abgenommen worden. Im Rathaus nahm an diesem Tag Bürgermeister Eybner vor dem Gemeinderat zu den Kriegsereignissen Stellung. Mit Fassung und Mannhaftigkeit sehe man den kommenden Ereignissen entgegen. Man hoffe und vertraue auf den Sieg des Vaterlandes.
St. Pöltens Straßen waren voll von Menschen, immer neue Kolonnen wurden zur Mobilisierung in die Stadt gebracht. Gleichzeitig setzte die öffentliche Wohltätigkeit von Sammlungen ein, in Aufrufen wurde die Bevölkerung beruhigt, weiter ihr Geld bei der Sparkasse einzuzahlen. Wie in vielen Orten, wurde 1914/15 auch in St. Pölten am Bahnhofsplatz ein „Wehrmann aus Eisen“ aufgestellt. Diese hölzerne Figur wurde mit Nägeln beschlagen. Josef Emil Spora verfasste ein „Soldatenlied 1914“:
 „Nun wollen wir marschieren
in Mörder-Peters-Land,
die Serben zu traktieren
mit Bissen aller Hand:
mit Kugeln, heiß gebraten
in Mannlicher Gewehr,
mit Bomben und Granaten
aus den Geschützen schwer.“
Am 3. September 1914 kamen die ersten Verwundeten in St. Pölten an, 516 Verwundete waren vom Kriegsschauplatz zurückgekehrt. Und schon 14 Tage später berichteten die Lokalblätter vom Tod am Schlachtfeld. Zu den ersten gehörte Dr. Rudolf Mrazek, der noch schwer verwundet zurückkehrte und erst zu Hause starb.
Den Krieg erlebten die St. Pöltner im neuen Medium des Films mit, gab es doch bereits Louis Genis Zeltkino am Platz hinter dem Bahnhof. Als „Kaiser-Panorama“ wurde am Bahnhofsplatz über die Kämpfe in Südtirol, das wieder eroberte Siebenbürgen und die Königskrönung in Ungarn informiert. Ein gemauertes Kino eröffnete Geni 1914 in Neuviehofen. Auch im Stadttheater und im Hotel Pittner gab es Filmvorführungen, in Wagram entstand das Elite-Kino. Der spätere Lyriker des Traisentales Walter Sachs besuchte seit 1915 das Lehrerseminar, Hans Auf gründete den FC Austria in Neuviehofen mit und Emmy Feiks-Waldhäusl maturierte 1917 am Institut der Englischen Fräulein. Egon Schiele besuchte 1916 St. Pölten, am Stadttheater spielte Alexander Girardi in der Operette „Künstlerblut“, weiters wurde Karl Schönherrs „Volk in Not“ gezeigt. Der sensible und depressive Maler, Grafiker, Schriftsteller und Musiker Ernst Stöhr erhängte sich am 17. Juni 1917 in der Wohnung seiner Eltern. Otto Tressler trat im Mai 1918 in „Elga“ im Stadttheater auf, während sich Bürgermeister Karl Heitzler einen Monat danach auf Plakaten über das unbotmäßige Verhalten der Jugend beklagte.
St. Pölten wurde in diesem Weltkrieg zwar nicht zum Ziel von Kriegshandlungen, aber so gut wie jeder Haushalt hatte den Tod eines oder mehrerer männlicher Familienmitglieder zu beklagen. Auch Emil Portisch, der Vater von Hugo Portisch, wurde 1914 zum Kriegsdienst eingezogen und konnte erst sechs Jahre später nach einer mehrjährigen abenteuerlichen und gefahrvollen Flucht aus russischer Gefangenschaft zurückkehren. Noch während der Besatzungszeit am Beginn der Zweiten Republik litt Emil Portisch unter dem Trauma dieser Flucht.
Stadtentwicklung und Wirtschaft
Der Erste Weltkrieg unterbrach die Entwicklung der aufstrebenden Stadt rapide. Der Kriegsbeginn hatte St. Pölten in einem Moment getroffen, „als die kommunalen Einrichtungen der Entwicklung und Bedeutung St. Pöltens nicht mehr entsprachen“. Das Truppenspital in der Matthias Corvinus Straße im Norden der Stadt musste durch Baracken erweitert werden, um den kriegsbedingten Anforderungen zu entsprechen. Später wurden diese Baracken langfristig zu Notquartieren umfunktioniert.
St. Pölten war während des Ersten Weltkriegs ein wichtiger Truppenübungsplatz, hatten hier doch die Hesser, die Kopaljäger, ein Landwehrregiment und der Landsturm sowie ein Telegrafenregiment ihre Ersatztruppenteile. Ein großes Gefangenenlager für Russen war in Spratzern entstanden, wo nach Karl Gutkas‘ „Geschichte des Landes Niederösterreich“ unglaubliche 10.000 Personen gestorben sein sollen. Daran erinnert noch heute ein Russenfriedhof. Im Süden schloss sich an das Lager eine ärarische Werkstätte für Geschützprotzen und Munitionswagen an als Vorläufer des späteren Holzwerkes in Wörth.
Mit Kriegsausbruch setzte sofort eine Depression in der Produktion ein, die erst im zweiten Quartal 1915 überwunden wurde. Qualifizierte Arbeitskräfte wurden vom Militärdienst frei gestellt, Sonn- und Feiertagsruhe wurden eingeschränkt, und zögernd setzte auch die Bewirtschaftung ein. In vielen Branchen war an Stelle der Weltwirtschaft die auftragsbereite Kriegswirtschaft getreten, die sogar positive Impulse entband. Einschränkungen für die Zivilbevölkerung waren spürbar, trotz einer Verschlechterung des Verhältnisses der Papierkrone zur Friedenskrone konnten sich in diesen Jahren zahlreiche Betriebe mittels der Kriegsgewinne aus der Vormundschaft der Banken befreien.
Mit dem Kriegseintritt Italiens wurde 1915 die Torpedofabrik Whitehead & Co. aus Fiume nach Viehofen verlegt. Dafür musste die Glanzstoff-Fabrik Grundstücke an der Grenze von St. Pölten und Viehofen abtreten. Mittransferiert wurde die italienische Belegschaft. Der Linienschiffsleutnant und erfolgreichste Seeflieger Österreichs im Ersten Weltkrieg Gottfried Freiherr von Banfield hatte 1901 in St. Pölten die Militärunterrealschule absolviert. Im Alleinflug verhinderte er am 1. August 1916 die Bombardierung von Fiume durch 14 italienische Kampfflugzeuge.
Die damals 14-jährige Maria Emhart, die später als „Mutter Courage“ der St. Pöltner Februarerhebung 1934 bekannt werden sollte, begann 1915 in der Seidenspinnerei der Glanzstoff-Fabrik. In diesem unter militärischer Leitung stehenden Betrieb musste sie Nachtarbeit leisten, von der Lauge waren ihre Finger zerfressen und ihre Augen litten meist unter Bindehautentzündung. Mit ihrer Schwester schlief Emhart in einem Bett, beide mussten sich auf Kommando umdrehen, um Platz zu haben. So lebte die dichtgedrängte Industriebevölkerung, bedrückt von sozialer Not, Kinderelend und Wohnungs- sowie Lebensmittelmangel.
Auch die Holzwollefabrik Kirschnek in Unterradlberg musste die gesamte Produktion an die k.u.k. Heeresverwaltung abliefern. Wegen Einberufung von Arbeitern, die vorerst vom Kriegsdienst freigestellt waren, durften zwölf Frauen über 18 Jahre neu eingestellt werden. Sie erhielten bei zehn täglichen Arbeitsstunden die gleichen Löhne wie die Männer.
Kaiserbesuch und Aufbäumen. Im Frühjahr 1916 gab es in St. Pölten eine große Lebensmittelknappheit – es gab kein Fett, kein Mehl, keine Kartoffeln, kaum Brot, kaum Milch und kaum Zucker. Die sozialdemokratische Frauenvorsitzende Marianne Schnofl führte gemeinsam mit dem Führer der Abordnung Philipp einen Marsch von 300 betroffenen Frauen zur Bezirkshauptmannschaft an, wo man 150 Brotkarten erhielt. Philipp zerschnitt diese und verteilte die jeweils halben Karten an die darbenden Frauen. Zwei Sozialdemokraten waren in den Approvisionierungsausschuss gekommen, wodurch sich die Lage verbesserte: An Stelle von Ausgabestellen von Bettelsuppen wurden nun zwei wirkliche Volksküchen errichtet, die täglich 2.000 Portionen zu verkraftbaren Preisen ausgaben.
In einem Bericht des Innenministeriums an den Statthalter von Wien wurde am 12. April 1917 von einer gedrückten Stimmung als Folge der Lebensmittelknappheit und von Demonstrationen in St. Pölten berichtet, was den Klassenhass stark verschärft habe. Man befürchtete eine gewaltsame Massenempörung und bereitete sich auf einen möglicher Weise stürmischen Ausbruch von Leidenschaften vor.
Sechs Tage danach weilte Kaiser Karl I. per Auto zu einem Kurzbesuch in St. Pölten. Er besichtigte die Militär-Schießstätte und inspizierte am großen Exerzierplatz die anwesenden Truppen. Hier überreichte ihm „die kleine Oser-Tochter“ einen Blumenstrauß. Am Kollerberg bei der Staatsbahnwerkstätte kam es zu Menschenansammlungen, viele wollten dem Kaiser Anliegen vorbringen. Der Gesprächs­impuls ging schließlich von Karl I. selbst aus, indem er die Arbeiterfrauen nach ihren Problemen fragte. Daraufhin trat die Großmutter der späteren Nationalrätin Adelheid Praher, Anna Gsöll, vor und klagte dem Kaiser die allgemeine Not der Arbeiterschaft, die Lebensmittelknappheit und das Schicksal der Soldaten. Der Kaiser hörte aufmerksam zu, gab der Frau seine Hand und lobte ihren Mut. Der in Aussicht stehende baldige Friede werde die Lage bald verbessern, versicherte er. Zwei Wochen danach brachte ein Vertreter der Behörde in die Wohnung von Frau Gsöll einen Korb mit Lebensmitteln, während in der Staatsbahn-Hauptwerkstätte ein Waggon mit Kartoffeln eintraf. In St. Pölten hatte der Kaiser noch die damalige Rainer-Kaserne, den kleinen Exerzierplatz und die Militärunterrealschule besucht. Nach einem militärischen Etablissement hatte der Monarch auch die Torpedofabrik in der Herzogenburger Straße besichtigt.
Voith beschäftigte damals bei einer 60-Stunden-Woche 920 Arbeiter. Wenn die Arbeiter im Betrieb zweimal zusammenliefen und trotz Sprechverbots debattierten, mussten mehrere Kollegen zur Strafe an die Front einrücken. In der Werkzeugfabrik Meuser waren neben 24 Zivilarbeitern vor allem Sträflinge und gefangene Russen beschäftigt. Nur drei Kollegen erhielten eine Teuerungszulage, der Verdienst lag überaus niedrig. Nach einem halbtägigen Streik im Juli 1917 klagte die Gewerkschaft bei der seit Jahresbeginn bestehenden Lohn- und Beschwerdekommission. Sie galt wegen ihres Vorsitzenden Feldmarschall Gerold von Skoda als eine der miesesten derartigen Einrichtungen, trug aber dennoch zur Verbesserung bei. Die Belegschaft der Torpedofabrik trat damals nach einem beispielhaften Arbeitsvertrag geschlossen der Gewerkschaft bei. Da auch Frauen aus Südtirol beigetreten waren, wetterte der italienische Pater Otaviano auf Plakaten an der Kirche von Unterradl­berg gegen diesen „niederträchtigen und gottfeindlichen Bund mit Sozialisten.“ In der Papierfabrik Elbemühl hatte sich ein 13-jähriges Mädchen an einer Querschneidemaschine schwerst verletzt, ihre um Entschädigung vorsprechende Mutter wurde von der Betriebsleitung beschimpft und hinausgetreten.
Im Oktober 1917 mutmaßte das Innenministerium, dass in den Fällen größerer Ruhestörungen in St. Pölten bisher nicht immer der Mangel an Lebensmitteln, sondern auch politische Motive eine vorrangige Rolle gespielt hatten. Der politische Volksverein „Karl Marx“ für St. Pölten und Umgebung führte am 18. November 1917 in St. Pölten zwei Friedens-Versammlungen durch. Die Redner Polke, Domes und Gabriele Proft wünschten die Annahme des russischen Friedensangebots: Trotz Behördenverbots für Kundgebungen waren 6.000 Arbeiter der Torpedofabrik, von Voith, Gasser, Glanzstoff, die Eisenbahner sowie mehrere Stadtteilgruppen durch die Wiener Straße, Kremser Gasse und Klostergasse über die Bezirkshauptmannschaft zum Gasthaus Fugger marschiert.
Jänner-Streik 1918. Als die Nahrungsmittelversorgung ihren Tiefpunkt erreichte und die Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk nicht voranschritten, setzte die österreichische Arbeiterschaft zur mächtigsten Streikaktion ihrer Geschichte an. In Wien, Niederösterreich mit Wiener Neustadt als Zentrum, Ober­österreich, Obersteiermark, Krakau, Brünn und Budapest befanden sich von 14. bis 22. Jänner 1918 insgesamt nahezu eine Million Arbeiter im Ausstand. Alleine in Niederösterreich gab es 300.000 Ausständische. Diese Ereignisse bewogen die junge Maria Emhart damals, sich der Sozialdemokratie anzuschließen:„In St. Pölten war damals das Standrecht ausgebrochen. Die Kremser Gasse hatte keine ganze Glasscheibe. Ab 8 Uhr abends durfte niemand auf der Straße sein. Für die Nachtschicht brauchten wir Passierscheine. Viele Frauen wurden von Wohnungen aus fotografiert, wie sie Steine in die Auslagen warfen, und es gab für manche bis zu drei Monate Kerker.“
In St. Pölten hatten hunderte Arbeiter, auch Soldaten, ja sogar Chargen demonstriert. In sämtlichen Betrieben herrschte Arbeitsruhe. Eine Versammlungswelle folgte der anderen. Obwohl die Sozialdemokratie schließlich die Wiederaufnahme der Arbeit empfahl, drang sie damit nur zögerlich durch. Entrüstet war man über Detektive, die im Auftrag der Bezirkshauptmannschaft in Wohnungen nach Lebensmitteln suchten. Noch am 22. Jänner waren von den insgesamt 8.890 Arbeitern 3.150 im Streik. Vor allem die Arbeiter der Torpedofabrik hinderte die Belegschaft anderer Fabriken daran, die Arbeit wieder aufzunehmen. Der spätere erste sozialdemokratische Bürgermeister Hubert Schnofl versuchte zu vermitteln.
Eine St. Pöltner Geschäftsfrau hatte am 21. Jänner der Bezirkshauptmannschaft das ihr zugetragene Gerücht anvertraut, dass die St. Pöltner Arbeiter in acht Tagen nach Wien marschieren würden, um dort die „Niederlegung des Throns“ zu erwirken.
„Ereignisse von weltgeschichtlicher Bedeutung“. Am 21. Mai 1918 legten sämtliche 800 Arbeiter der Torpedofabrik ihre Arbeit nieder zwecks Wiedererlangung der zuvor entzogenen Kriegszulage. Schließlich bekräftigten sie, überhaupt nicht mehr arbeiten zu wollen, sondern zu ihren Familien nach Fiume zurück zu kehren. Sie fühlten sich durch die Trennung von ihren Familien wirtschaftlich geschädigt. Sie wollten die Rückverlegung der Torpedofabrik nach Fiume daher erzwingen. Da sich nun im Spratzerner Lager auch gefangene italienische Offiziere befanden, nahm die Unruhe zu. Die Überwachung der sich ansonsten frei bewegenden italienischen Gefangenen wurde ins Auge gefasst. Der k.u.k. Militärkommandant drohte den Arbeitern für den Fall weiterer Arbeitsverweigerung die volle Anwendung der Gesetze an. Gegen drei Arbeiter, die tatsächlich abreisen wollten, wurden Maßnahmen ergriffen. In einer Versammlung formulierten die Arbeiter am 31. Mai acht Bedingungen zur vor allem sozialen Verbesserung. Gegen eine zwangsweise Vorführung der Arbeiter bot sich Hubert Schnofl als Vermittler an. Auch der Gewerkschafter Franz Domes trat in einer Versammlung über das Kriegsleistungsgesetz als Anwalt des Staates auf und versuchte, unter Missfallensrufen, die Zuhörer auf Linie zu bringen. Auf stärkste Kritik stieß in der zweiten Junihälfte eine von der Regierung verfügte Brotkürzung. Deshalb streikten auch die Voithler von 20. bis 25. Juni.
Der bereits stark geschrumpfte St. Pöltner Gemeinderat beschloss am 20. September 1918 eine einstimmige Entschließung an die Kabinettskanzlei des Kaisers gegen „das verhetzende Treiben der Tschechen und Südslawen“ und voller dynastischer Treue. Weiters wurde eine Erhöhung der Sargpreise für Militär- und Armenleichen um je 5 Kronen beschlossen. Ende September drang die grassierende Spanische Grippe nach St. Pölten ein, die Krankenstände stiegen unmittelbar um 130 %, nicht aber die Sterbeziffern, ja die Spanische Grippe flaute sogar ab. Seit 21. September traf in St. Pölten keine Kohle mehr ein und der Verein „Karl Marx“ urgierte in einer Resolution Maßnahmen gegen die Wohnungsnot.
Am 3. Oktober forderte der deutschradikale Wiener Neustädter Gemeinderat Pechall auf einer Parteiversammlung in St. Pölten den Zusammenschluss aller deutschgesinnten Kreise zum Verteidigungskampf. Bischof Dr. Rößler führte eine Friedenswallfahrt nach Mariazell. Der Gründer der St. Pöltner Kinderbewahranstalt und Ehrenbürger Anton Kalcher starb am 17. Oktober. Gegen die tags zuvor affichierten Doppelbögenplakate mit dem Völkermanifest des Kaisers ätzte die sozialdemokratische „Volkswacht“, die k.u.k. Statthalterei habe wohl noch nichts von der herrschenden Papiernot gehört. Am 28. Oktober gedachte der greise Bürgermeister Karl Heitzler im Gemeinderat „der Ereignisse von weltgeschichtlicher Bedeutung“ und entbot der deutschösterreichischen Nationalversammlung in Wien den „Gruß der Stadtgemeinde St. Pölten“. Am 30. Oktober 1918 fand am Rathausplatz eine Kundgebung für die neue Republik Deutschösterreich statt, während im Rathaus Heinrich Schneidmadl der alten Gemeindevertretung riet, nach vier Jahren Zwangsentbehrung in den nächsten Monaten freiwillig die Not zu ertragen, bis die Verhältnisse endlich geordnet würden.
Als der Erste Weltkrieg bereits beendet war, führte der St. Pöltner Sappeur-Kompanie-Kommandant und Oberleutnant Julius Raab, der in der Zweiten Republik „Staatsvertragskanzler“ werden sollte, seine Kompanie mit Angehörigen aller Nationalitäten vom 6. bis 23. November 1918 in einem Marsch von der italienischen Front über die Steiermark nach Hause bis St. Pölten, wo im Bauhof Wohlmeyer abgerüstet wurde. Raab hatte die Leute in zehn Isonzo-Schlachten geführt, dabei 2.000 Mann verloren. Man vertraute ihm.
Aus dem vermeintlichen Spaziergang zur Bestrafung der unbotmäßigen Serben war ein vierjähriger Weltenbrand geworden, an dessen Ende auch St. Pölten mit offiziell 675 Kriegstoten und allen Problemen der Nachkriegszeit unter neuen demokratischen Autoritäten zaghaft und schwungvoll zugleich einen neuen Anfang setzte. ZUR PERSON
Der Historiker Prof. Dr. Siegfried Nasko war langjähriger Archivdirektor und Leiter der Öffentlichkeitsarbeit der Stadt St. Pölten. Politisch war er u. a. als Kulturstadtrat sowie Landtagsabgeordneter aktiv. Er setzt sich seit vier Jahrzehnten intensiv mit Dr. Karl Renner auseinander und ist u.a. wissenschaftlicher Leiter des Dr. Karl Renner Museums in Gloggnitz. Zudem war Nasko im wissenschaftlichen Team von Hugo Portisch‘ Österreich II.
WELTKRIEGSAUSSTELLUNG GLOGGNITZ
Nasko hat die großartige Ausstellung „Hoppla, wir leben – mit ‚Hurra‘ in den Untergang“ im Renner Museum gestaltet! Noch bis 8.12.2014.